Vom Schnee im Sommer und dem Recht auf Sehnsucht.
Eine Landschaft, die nicht mit Palästen, sondern mit dem Gold ihrer Stande und Klippen wuchert. Die kleinste und südlichste Provinz Portugals macht Klimaträume wahr – aber auch den Alb des Betonzeitalters.
Und doch spielt hier die schlichte Lust am Leben noch eine größere Rolle als der Profit, sind Geselligkeit und gute Bissen noch wichtiger als der Ausverkauf der Seele. Zwischen dem südwestlichsten Zipfel Europas und der Grenze zu Spanien haben wir noch eine Algarve entdeckt, die staunen lässt: Ewiger Sommer, Melancholie und Mandelbäume – eine unwiderstehliche Mischung. xxx
Früher lag hinter den Bergen noch das Paradies. Vor den karstigen Hügeln, die die Algarve geographisch isolieren, machten nicht nur Klima und Vegetation halt, auch Lebensgefühl, Sitten und Gebräuche unterschieden sich von denen Rest-Portugals. Eine eigenwillige Abfolge friedlicher Besatzungen hat diesem Landstrich ihren Stempel aufgedrückt. Aber weder Phönizier noch Römer vermochten ihn so nachhaltig zu prägen wie die maurische Kultur. Ihre elegante Handschrift, obgleich bereits acht Jahrhunderte alt, lässt sich noch heute aus architektonischen Fragmenten herauslesen: aus ornamentalen Kaminsimsen, aus kunstvoll verzierten blau-weißen Kacheln, den "Azulejos", aus kugelförmigen Dächern und großzügig angelegten Gärten und Obsthainen. Man ahnt die Belesenheit des Volkes, dass über 500 Jahre die Geschicke des portugiesischen Südwestens bestimmt hat, seine Kunstversonnenheit und seine Liebe zum "Al-Gharb", dem "Westen". xxx
Leidenschaften schaffen oft Legenden – von beiden gibt es reichlich an der Algarve. Eine wunderschöne Prinzessin aus dem fernen Atlas-Gebirge, so heißt es, wurde einst die Geliebte eines Maurenkönigs. Trotz der Schönheit der Algarve bekam sie entsetzliches Heimweh nach den schneebedeckten Höhen ihrer Heimat. In diesem neuen Land, in dem die Sonne beinahe immer schien, grämte sie sich so sehr, dass sie darüber schwer krank wurde. Verzweifelt angesichts ihres Zustands, aber unfähig das Wetter zu ändern, ließ der König tausende von Mandelbäumen pflanzen. Als dann im nächsten Februar ihre weißen Blüten wie eine pulverige Schneedecke die Hügel rund ums Schloss bedeckten, erwachte die Prinzessin aus ihrer Schwermut und gesundete binnen weniger Tage. Und weil die beiden einander so zugetan waren, wurden sie sehr alt und freuten sich jedes Jahr aufs Neue nicht nur an den Blüten, sondern auch am köstlichen Naschwerk aus den Früchten der Mandelbäume. xxx
Den Würgegriff das Stahlbetons, wer könnte ihn verschweigen? Immer fester schließt er sich um die Küstensädte der Algarve. Die Benidormisierung einer ehemals unberührten Fischer-Region hat schlimmer stattgefunden, als manch hastig gefasster Baubeschluss es je befürchten ließ. Hinge nicht über alledem ein gnädiger Himmel von beinah unwirklichem Blau, Orte wie Porteira oder Vilamoura wirkten mehr wie die sozialen Brennpunkte einer Megacity.
Wer flüssig ist, logiert dann lieber auf einer "Pousada", einem historischen Gasthof im Hinterland. Oder in einer der vielen Villen-Siedlungen mit eigenem Pool, Gärtner und Sicherheitsdienst. Das gemeine Touristenvolk greift zum Supersparpreis auf die Bettenburg mit Vollpension zurück und erträgt die Tristesse, indem es den Blick streng Richtung Horizont einstellt und das steingewordene Szenario konsequent im Rücken behält. xxx
Keine Probleme mit der Blickrichtung hat, wer sich auf den Ball der Bälle konzentriert. Auf einer der 15 Golfanlagen zwischen Quinto do Lago und Salema wird der meditative Sport hauptsächlich von denen gepflegt, die ihn sich ausgedacht haben: den Briten. Sogenannte Schnupperstunden sind empfehlenswert und auch erschwinglich, doch sei an dieser Stelle gewarnt: Golfen ist keine Gelegenheitsdroge, sondern ein Suchtmittel erster Ordnung! xxx
Eines der wenigen Dinge, das häufiger anzutreffen ist als schlagversessene Engländer, ist der Rasensprenger.
Die Bewässerungsversessenheit der Algarve-Bewohner ist ein weiteres Relikt aus maurischer Zeit. Erst die cleveren Kaufleute aus dem Morgenland importierten auch das Know-how, auf verstepptem Boden üppige und lukrative Gärten zu schaffen. Hölzerne Wasserschöpfräder nach arabischem Vorbild sind an den weniger erschlossenen Nebenstraßen ein gängiges Bild. Dank großer Grundwasserreserven und einer klimatisch bevorzugten Lage wird das kühle Nass bisher nicht knapp. Die Serra de Monchique, eine wie unberührt wirkende Landschaft oberhalb von Portimao, birgt daher ein erstaunliches Potpourri tropischer, subtropischer und mitteleuropäischer Pflanzenarten. Erdbeerbäume und mächtiger Eukalyptus neben Oleander, Korkeiche und Orangenbäumchen bieten Oasen aus Duft und Schatten - für stressgeplagte Urlauber genauso wie für ohnehin entspannte Schafherden. xxx
Was macht die portugiesische Seele so melancholisch?
Ein kollektives Lebensgefühl von unbestimmter Wehmut, in Deutschland vielleicht vergleichbar mit einem Weltschmerz a la Goethes Werther. Der Portugiese nimmt sich viel Zeit, die Abgründe seines irdischen Daseins zu betrachten und lässt sie auf sich wirken. So paart sich dann gern profaner Liebeskummer mit der Trauer über die allgemeine Vergänglichkeit der Dinge. "Saudade" nennt man dieses nebulöse Empfinden, das sich eigentlich selbst genügt. Ihren erhebendsten Ausdruck erlangt die Saudade im "Fado", einem Gitarre-begleiteten Gesang von solcher Inbrunst, dass sich ihm schlechthin niemand entziehen kann. In abgedunkelten Kneipenräumen, mal spontan und für ein mit-leidendes Publikum, mal für Touristen inszeniert, entlädt sich die ganze Sehnsucht der menschlichen Existenz. Jeder darf hier seine eigene Saudade empfinden – gemessen an der selbstbewussten Ausgeglichenheit der Portugiesen, sicher die effektivste aller modernen Psychotherapien.
© Birgit Kahle 1996