Israel:
Schwarz/Weiß und die Kraft des Zweifels
Deutsche Studienreisende in Jerusalem auf der Suche nach Orientierung.
Georg Rösler ist Reiseveranstalter und lebt seit 1988 in Israel. Sich mit den jüdisch-arabischen Beziehungen zu befassen, kommt für ihn einer Bürgerpflicht gleich. Deshalb engagiert er sich in zahlreichen ‚Erzählstunden’ und Workshops als Mittler zwischen den Welten, er unterstützt das arabisch-jüdisches Schulprojekt 'Hand in Hand', in dem Kinder beider ‚Ethnien’ (was in diesem Kontext nur als Metapher dienen soll) gleichberechtigt lernen. Ausländischen Gästen, die über ihn Reisen nach Israel und Palästina buchen, rät er zu Neutralität. Er fordert sie auf, stets beide Narrative des Konflikts zu betrachten. Denn erst durch Hinsehen und Hinhören bildet sich eine Haltung. Nicht selten bleibt sie uneindeutig. Macht nichts, so Rösler: „Wer bei der Abreise mehr Fragen hat als bei seiner Ankunft, der hat schon eine Menge verstanden.“
An diesem Abend im November spricht er vor einer Gruppe Deutscher, die eine Woche straff organisierter Bildungsreise durch Israel und Palästina absolvieren. Heute ist ihr erster Abend und sie lauschen einer der Röslerschen Erzählstunden. Er zeichnet "das große Bild": ein subjektiver Versuch der Einordnung, ohne Anspruch auf Deutungshoheit.
Das jüdische Volk ist wohl das einzige mit einer Geschichte von 2300 jähriger physischer Verfolgung. Auf diesem Trauma gründet vieles, was heute in der Region passiert. Die Gedenkstätte Yad Vashem bildet gewissermaßen eine Art Abschluss, ist eine Dokumentation dieses Traumas - und nicht allein die des Holocausts im 20. Jahrhundert. Die Festung Masada hingegen spiegelt quasi die Militärdoktrin, den Gegenpol dazu. Sie gilt als Inspirationsquelle und als Symbol des jüdischen Behauptungswillens durch zweieinhalb Jahrtausende.
In seinem Vortrag und in der sich anschließenden Diskussion bezieht Georg Rösler die Erfahrungen der Zuhörer, ihr eigenes nationales Narrativ mit ein: Die Deutschen hätten nach dem zweiten Weltkrieg, aus Schmerz, Demütigung und Schuld eine hochmoralische Denke entwickelt. Tatsächlich hat wohl kein Volk seine Schuld aus Krieg und Verfolgung konsequenter und besser verarbeitet und daraus eine Handlungsmaxime abgeleitet: Nie wieder Täter!
Nun, sagt Rösler mit einem Achselzucken: „Die Israelis sagen: Nie wieder Opfer!“ Die Deutschen hielte man hier heute für Gutmenschen mit einem völligem Unverständnis für den Status Quo des Staates Israel und der palästinensischen Frage. Die Deutschen wiederum verstehen sie nicht, diese Israelische Notwehrattitüde.
(West)-Europäer werden seit 60 Jahren mit dem Begriff "Nahost-Konflikt" gefüttert. Er steht seither für einen israelisch-palästinensischen Konflikt. Diese Verkürzung verkennt aber die komplizierte Architektur der gesamten Region, die nicht nur an den Folgen katastrophaler Kolonialpolitik krankt. Zwei Beispiele aus jüngster Vergangenheit führt er Georg Rösler: „Nach dem Sturz Mubaraks hat der Muslimbruder Mursi murks gemacht und es geschafft, innerhalb eines Jahres die Grenze zum Sinai zu destabilisieren. Jetzt ist die Grenze eine Art zweites Mekka für Qaida & Co. Und im Gazastreifen stehen seit dem Abzug Israels nach dem Abkommen von Oslo wieder 20000 Raketen Richtung Israel.“
Die These: Muslimbrüder erwirtschaften kein Bruttosozialprodukt.
Es stimmt ja, auch im Libanon, früher ‚Schweiz des Nahen Ostens’, stehen jetzt Hisbollah-kontrollierte Raketen. Die Region wird geradezu in Geiselhaft genommen zwischen sunnitischen und schiitischen Interessen. Iran und Saudi-Arabien kämpfen seit Jahren in Stellvertreterkriegen um die Territorialmacht in der Region. Rösler: „Irak und Iran sind Scherbenhaufen. Syrien ist in Auflösung begriffen und zum Teil IS-Territorium. Allen gemein ist, dass sie den Staat Israel im Grunde radikal auslöschen möchten und das Territorium wieder rein arabisch wird.“
Jordanien dagegen sei das „West-Baby“, massiv finanziert unter anderem durch die katholische Kirche. Doch auch Jordanien drohe schließlich gerade zu implodieren – noch sei es aber das derzeit letzte 'westliche' Bollwerk für Israel. „Die Türkei versucht selbst zur Hegemonialmacht zu werden, auch weil die EU ihr seit über einem Jahrzehnt den Zutritt verwehrt hat.“ Ein Teil der Zuhörer nickt zustimmend. Vor diesem Hintergrund seien die paar Palästinenser geradezu lächerlich meint Rösler. Er meint das alles andere als abfällig.
Es fällt nicht sonderlich schwer, seiner Argumentation zu folgen. Der Blickwinkel der israelischen Regierung ist ein völlig anderer als der europäische, vor allem naturgemäß anders als der deutsche.
Die israelische Siedlungspolitik im Westjordanland ist in den Augen vieler Deutscher (und auch vieler Israelis) eine Katastrophe. „Aber," fragt Rösler in die Runde "warum machen 'die Israelis' das?“ Er beschreibt das Westjordanland als strategisch so elementar, dass es aus israelischer Sicht um keinen Preis von Arabern besiedelt werden darf. Es ist ja nicht so, als könne man sich hier großzügig gegenseitig Raum überlassen und fortan in friedlicher Koexistenz leben, selbst wenn man es denn wollte: Der Staat Israel ist gerade einmal so groß wie Hessen.
Der Politik, so Rösler, seien die Motive der religiösen Siedler im Prinzip völlig egal: Israelische Regierungen sind seit Jahrzehnten eher säkular. Jede neue Administration nutzt die Nationalreligiösen lediglich als Steigbügelhalter um an die Macht zu kommen. Und sie funktionalisiert sie gegen alle möglichen Bedrohungen. Und die können eigentlich nur von Osten her kommen, also aus Richtung des Jordangrabens. Militärpolitisch ist dieses zerklüftete, unwirtliche Gebiet ein Schutzgarant, weil es als besonders schwer einnehmbar gilt.
Deshalb "bepflanze" man auch die kargen angrenzenden Hügel des Jordangrabens mit religiös hochmotivierten Siedlern.
In Hebron, der größten palästinensischen Stadt im von Israel besetzten Westjordanland, liegen für religiöse Juden die geistigen (sprich: biblischen) Wurzeln der Israelis. Es ist heute, 50 Jahre nach dem blutigen 6-Tage-Krieg, die einzige palästinensische Stadt mit jüdischen Siedlungen direkt in ihrem Zentrum. Nationalreligiöse Siedler, die dort im vermeintlich von Gott für sie auserwählten Land aggressiv Wohnung nehmen, wollen keine ‚Fremden’. Auch wenn sie es sind, die in den Augen der Araber die Fremden sind, denn seit 683 galt die Stadt als arabisch.
Zwei Staaten, eine Lösung?
Betrachtet man die Gemengelage aus dieser Perspektive an (und es gibt ja noch eine Vielzahl anderer Interessen, geostrategische beispielsweise), so kann es eigentlich nur eine Zweistaaten-Lösung geben. Und zwar, da ist sich Georg Rösler mit den meisten Anwesenden einig, vor allem aus historischen, nicht aus moralischen Gründen. Seine Argumentation: Erstens: Man lässt sich ein Volk auf Dauer nicht besetzen. Irgendwann sucht es sich ein Ventil. Zweitens: Ein israelisch-jüdisch definierter Staat kann auf Dauer keine Apartheidpolitik betreiben. Und drittens gelingt die Einstaaten-Lösung schon aus Demographiegründen nicht, weil nach kurzer Zeit der jüdische Staat von der stärker wachsenden arabisch-muslimischen Bevölkerung rein zahlenmäßig überrannt würde.
Vor diesem immer schwelenden, stets brandgefährlichen Hintergrund mögen sowohl die hohe Wehrbereitschaft als auch die Ängste der Israelis etwas verständlicher erscheinen. Einer Lösung des Konflikts stehen sie aber diametral entgegen. Trotzdem bestimmen sie maßgeblich jeden Wahlausgang: Denn nur aus Angst vor der Auslöschung wählen viele Israelis militär- und sicherheitspolitisch rechts – derzeit also Netanjahu. Nur im Schulterschluss mit den Orthodoxen kann der sich wiederum in der Kneset an der Macht halten.
Eines steht fest: Wirtschaftlich hängen in der Region fast alle irgendwie am Tropf derjenigen, die über fast unbegrenzte materielle Ressourcen verfügen, nämlich der Saudis und Iraner. Die beiden Erzfeinde bestimmen den Pulsschlag des Patienten. Verringert sich die Nährstoffzufuhr aus ihren Schläuchen, kann der Siechende entweder sterben oder sich aus eigener Kraft ins Leben zurückkämpfen.
Solange die westliche Welt hier unnachhaltig ihren Hunger nach fossilen Brennstoffen stillt, solange finanziert sie nachhaltig den Nahost-Konflikt.
Erst wenn Iran und Saudi-Arabien gezwungen sind, nicht nur eigene Ressourcen zu verkaufen, sondern aus eigener Kraft etwas zu erwirtschaften, erst dann könnte sich der Konflikt allmählich lösen - jenseits religiöser Doktrin.
‚Normale’ Volkswirtschaften sind zur Kooperation gezwungen. Erst wenn die westlichen Volkswirtschaften energiepolitisch autark werden, unabhängig vom Öl des Ostens, wird der mächtige Tropf der die Krisen mitfinanziert, langsam versiegen. Dann würden sich hiesige Gesellschaften öffnen, miteinander Handel treiben wollen (und müssen), werden nach - auch weltanschaulichen - Alternativen, in der Welt suchen.
Georg Röslers Fazit - und das der Gruppe an diesem Abend - ist leider frustierend: Aus der schrecklichen Gemengelage von Psychologie (Angst, Demütigung), von Religion, wirtschaftlichen Abhängigkeiten, territorialer Enge sowie heiliger und unheiliger Allianzen gibt es weder kurz noch mittelfristig einen Ausweg.
Doch wenn es mehr Menschen gibt, die versuchen nicht Partei zu sein, bleibt zumindest Hoffnung. Falls diejenigen, die heute mitdiskutiert haben, ihre Zweifel an schwarz/weiß, an vermeintlich einfachen oder gar militärischen Lösungen mitnehmen und in die Welt tragen - ja dann wäre tatsächlich schon etwas gewonnen auf dem Weg in einen friedlichen „Nahen Osten“.
©Birgit Kahle 11/2016